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Der Tag des Herumtreibers

von Ralph S. Souders

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Übersetzung von Heiner Stadlbauer and Ralph S. Souders


„Opa, warum gehst du so?” fragte Tommy, mein achtjähriger Enkel. Er lebte außerhalb des Staates und wir hatten uns nicht allzu oft gesehen. Als typischer Junge war er neugierig. Bis heute hatte er nie nach meinem verkrüppelten Bein gefragt. Ich glaubte, er sei alt genug, um es zu hören.

„Ich werde dir die Geschichte erzählen”, antwortete ich. „Du hast Interesse?”

„Ja”, sagte er, während er sich setzte und sich erwartungsvoll nach vorne beugte. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Er war ein guter Junge. Ich saß neben ihm auf dem Sofa.

* * *

Es war ein typischer Nachmittag in Cedar City, drei Wochen vor meinem vierzehnten Geburtstag. Der Sommer was heiss und trocken gewesen. Der Wind wehte feinen Staub durch die Stadt, und jeder fühlte sich warm und schmutzig. Die Bauern hofften auf Regen. Die Viehzüchter hatten ihre Herden bereits nach Norden verlegt, wo die Gräser noch grün waren und es noch reichlich Wasser gab. Niemand erwartete, dass das Vieh vor dem Herbst zurückkehren würde.

Nur wenige Männer blieben in der Gegend. Die Rancharbeiter und Cowboys waren mit den Herden gegangen. Die Geschäftseute öffneten noch ihre Läden, aber die Verkäufe gingen nur schleppend. Abgesehen von diesen Ladeninhabern schien es, als ob nur Frauen und kleine Kinder in Stadt bevölkerten. Wir Jungen waren damit beschäftigt, in den Geschäften zu arbeiten oder verschiedene Aufgaben in der Stadt zu erledigen. Es war kein lustiger Sommer gewessen.

Am späten Nachmittags hörte ich das Pferd eines einsamen Reiters in sehr langsamem Gang in die Stadt schlendern. Seine Hufe machten ein charakteristisches Geräusch, als sie die trockene, unbefestigte Straße berührten. Ich schaute aus dem Gemischtwarenladen heraus, wo ich gerade fegte. Das Aussehen und Verhalten des Reiters machten mir Angst.

Der Reiter trug dunkle, staubbedeckte Kleidung. Er war offensichtlich schon viele Tage unterwegs. Unter seinen Armen und am inneren Rand seines schwarzen Hutes waren Schweißflecken. Er hatte ein verblichenes rotes Halstuch um seine Nacken. Seine Lederstiefel waren abgetragen und reif fur den Abfall. Eine Pistol vom Kaliber Colt 38 hing in einem Halfter an seiner Hüfte, während ein Gewehr in seiner Scheide direkt hinter seinem Sattel neben den Satteltaschen am Pferd befestigt war. Der Mann rauchte ein zerknitterte Zigarette.

Als der Mann in Salon nebenan ankam, stieg er ab und band sein Pferd an den Arbindepfosten. Er sah, wie ich ihn anstarrte. Der kalte Ausdruck verließ sein Gesicht nie.

„Hey Junge, komm her”, rief er mir zu.

Gehorsam ging ich nach draußen und stellte mich neben ihn. Ich werde nie vergessen, wie schlimm er roch - eklig. Der Mann war offensichtlich ein Herumtreiber.

„Kannst du dich um mein Pferd kümmern?” fragt er. „Er braucht Wasser und Hafer. Und ein bisschen Abwischen.”

„Das schaffe ich”, antwortete ich.

Der Fremde warf mir eine Fünf-Dollar-Münze zu. „Wird das alles abdecken?”

„Ja, das reicht”, informierte ich ihm.

“Machen Sie es gleich”, sagte er. „Ich möchte in dreißig Minuten gehen.”

“Er wird auf Sie warten, wenn Sie bereit sind zu gehen.”

„Stellen Sie sicher, dass er hier ist,” ermahnte der Reiter.

Als ich das Pferd losband und zum Stall die Straße hinaufführte, sah ich, wie der Mann den Salon betrat. Mein instinkt sagte mir, ich solle sein Pferd pflegen und es pünktlich wieder vor den Salon bringen. Ich wollte diesen Kerl nicht verärgern.

Dreißig Minuten später, war das Frisch gefütterte und entspannte Pferd losgebunden und bereit für den Reiter. Ich hielt die Zügel in meiner Hand, als ich direkt vor der Vordertür des Salons stand. Plötzlich ertönte drinnen das Geräusch von Schüssen. Obwohl ich schnell vier Schüsse zählte, ging meine Zählung sofort verloren, als eine verirrte Kugel das Gebäude durch die Schwingtüren verließ und mich direkt in mein rechtes Knie traf. Der Schmerz war entsetzlich. Ich ließ die Pferdezügel los und brach auf dem hölzernen Bürgersteig zusammen. Das Pferd lief nicht weg. Mein Knie blutete stark und ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.

Eine Frau, die in der Nähe ging, schrie und rannte zum Arzt. Er kam innerhalb weniger Minuten an. Er hatte gerade begonnen, meine Wunde zu untersuchen, als der Fremde durch die Schwingtür trat. Er sah mich auf dem Bürgersteig liegen.

„Kümmern Sie sich um das Kind”, wies er den Arzt an. „Da drinnen sind noch zwei andere. Du kannst ihnen nicht helfen.”

Der Arzt was entsetzt, dies zu horen. „Jemand holt den Sheriff!” rief er der Menge zu, die sich schnell versammelt hatte.

„Es ist zu spät”, erwiderte der Fremde gefühllos. „Er liegt auf dem Salonboden.”

Damit bestieg der Reiter sein Pferd. Er grinstete die Stadtbewohner höhnisch an und ritt dann langsam in die entgegenesetzte Richtung davon, aus der gekommen war. Da der Sheriff tot war und nur wenige Männer in der Stadt waren, wurde kein Versuch unternommen, eine Gruppe zu bilden und ihm nachzujagen. Er entkam und würde nie festgenommen.

Ich verlor das Bewusstsein. Als ich aufwachte, lag ich mit einem dick bandagierten Bein auf einer Pritsche in Büro des Artztes. Meine Mutter was da. Ich wusste, dass meine Wunde ernst war, als sie dem Arzt erlaubte, mir Whisky zu geben, um zu versuchen, die Schmerzen zu betãuben. Der Arzt war ein mitfühlender Mann, ein Militärveteran mit Erfahrung in der Behandlung von Schusswunden. Er hatte meine Familie viele Jahre lang medizinisch versorgt. Er rettete mein Bein und letztendlich erholte ich mich. Trotzdem war mein Knie schwer beschädigt und ein Großteil seiner natürlichen verwenden ging verloren. Ich würde für den Rest meines Lebens hinken. Alles in allem betrachte ich mich als sehr glücklich.

* * *

„Glücklich?” fragte mein Enkel. “Wie hast du Glück?”

„Wäre die Kugel aus einem anderen Winkel aus dem Gebäude abgefeuert worden, hätte ich in den Bauch getroffen werden können. Ich hätte in die Brust oder in den Kopf getroffen werden können.”

Der kleine Junge nickte. „Du hast Glück, Opa”, stimmte er zu. „Du hast Glück, hier zu sein.”

„Genau so wie du”, antwortete ich gutmütig.

Als ihm die Bedeutung dieser Aussage klar wurde, zeichnete sich schnell ein Ausdruck des Erstaunens auf seinem Gesicht ab.

„Ich bin froh, dass der Fremde dich nicht getötet hat, Opa”, sagte er aufrichtig.

„Das bin ich auch, Tommy”, antwortete ich liebevoll. „Ich auch.”


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